Die Münchnerinnen

Lernen Sie hier interessante Frauen kennen, vorrangig Münchnerinnen,  aber nicht nur.

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Vergessene Münchnerinnen auf dem Alten Südfriedhof

Mein Beitrag zur Blogparade der Monacensia München.
In München wurden im 19. Jahrhundert zahlreiche Straßen nach männlichen Persönlichkeiten der Stadtgeschichte benannt (vor allem in der Isarvorstadt). Hier trägt genau eine Straße den Namen einer Frau, der Heiligen Thekla von Kitzingen, die im 8. Jahrhundert lebte … Zum Glück ändert sich das gerade in Neubaugebieten.

Hofpianofortefabrikantenswitwe, Charkutiersgattin
Auf vielen Grabinschriften werden die Frauen über ihren Familienstand bzw. über den Beruf oder die Bedeutung des jeweiligen Mannes benannt. Nun war es so, dass eine bürgerliche oder adelige Frau in den Jahrhunderten, als der Friedhof in Betrieb war, wenige Möglichkeiten hatte, einen „ehrbaren“ Beruf oder eine über das Häusliche hinausgehende Tätigkeit auszuüben. Und die Berufe von Arbeiterinnen, Dienstmägden etc. wurden nicht festgehalten. Gibt es wirklich nichts, was sich über die weiblichen Verstorbenen erzählen ließe? Dieser Gedanke beschäftigt mich lange beim Spaziergang über den Südfriedhof. Und so fing ich an zu recherchieren.
„Stein des Anstoßes“ für das Projekt „Vergessene Münchnerinnen“ wurde Friederike Thoma, Ludwig Thomas „Tante Frieda“.

In Thomas Erzählungen kommt die Tante sehr schlecht weg. Deshalb war ich irritiert über die Inschrift „die unsterbliche Tante Frieda“ – warum wurde der Finger für alle Ewigkeit in diese Wunde gelegt? Heute weiß ich, dass der Grabstein nachträglich als Gedenkstein aufgestellt wurde, vermutlich sogar erst nach den Zerstörungen 1944. Und ich weiß ein wenig mehr über das nicht immer unbeschwerte Leben einer unverheirateten, berufs- und einkommenslosen Frau um 1900, die oft auf die Unterstützung der Angehörigen angewiesen war und häufig allen Grund zu Verbitterung hatte. „Die Tante hat gerade gesagt, sie weiß schon, dass man sie in unserer Familie nicht leiden kann, aber das ist immer der Dank von den Brüdern, wenn sie fertig sind [mit dem Studium] und das ganze Geld gebraucht haben; dann kümmern sie sich nicht mehr um die Schwestern.“, heißt es bei Thoma1.

So folgte eine Frauenbiografie nach der anderen an. Mittlerweile zählt die Reihe der Frauen, über die ich einiges weiß, stolze 60 Namen. Es sind Sängerinnen, Schauspielerinnen, prominente Gattinnen, Künstlerinnen, auch die eine oder andere Unternehmerin ist dabei. Sie alle verdienen es, „ausgegraben“, aufgeschrieben und festgehalten zu werden, in Kalendern, Führungen und Büchern.2  

Manche Frauen scheinen gewissermaßen nur „ein bisschen vergessen“, zum Beispiel die Pianistin, Musikpädagogin und Komponistin Sophie Menter (1846–1918), die mit Franz Liszt befreundet war, seine Musik mit großer Kunst spielte und deren Tochter Coelestine neuesten Erkenntnissen zufolge von ihm war.3 Oder Kreszenz Schmitter (1817–1890), Tochter einer Magd aus Jenhausen (Lkr. Weilheim); sie gründete eine Einrichtung für alte, bedürftige Frauen, aus der nach langen Streitereien mit Stadt und Kirche das Kreszentia-Stift in der Kapuzinerstraße erwuchs. Clara Ziegler (1844–1909) wollte, wie manche eigensinnige Frau, nicht heiraten, sondern selbständig bleiben. Sie wurde eine hochangesehene Schauspielerin und erarbeitete sich ein großes Vermögen, das sie in ihre Stiftung für ein Theatermuseum einbrachte, das erst in ihrer prunkvollen Villa in der Königinstraße, später in der Galeriestraße seine Heimat fand. Und die berühmt-berüchtigte Adele Spitzeder (1832–1895), Schauspielerin, Bankbetrügerin und „Erfinderin“ des Schneeballsystems. Das büßte sie mit einer dreijährigen Gefängnisstrafe. Später stellte sie in ihren Memoiren ihre Sicht der Dinge dar.4 Ihr Grab findet nur, wer es kennt, denn sie wurde anonym in einer Grabstätte entfernter Verwandter mit einem anderen Namen beigesetzt.
Tatsächlich nahezu vergessen ist beispielsweise Babette Klinger-Schmid (1859–1930), die mit dem Münchner Marionettentheater aufwuchs und für es lebte. Luise Roeckl (1820–1882) trug als Ehefrau des Jakob Roeckl zu Gründung und Aufstieg der Handschuhmanufaktur Roeckl bei, die ab 1880 am Roecklplatz produzierte. Maria Electrine von Freyberg (1797–1847) ist eine der wenigen Frauen, die vor 1920 an der kgl. Akademie der Künste studieren durften; sie sollte nach dem Wunsch ihres Vaters unverheiratet bleiben, um ihr Talent nicht zu vergeuden, und schaffte doch alles: Künstlerin zu sein, Gattin eines vielbeschäftigten Staatsdieners und Mutter von sieben Kindern.

Aber auch heute völlig unbekannte Frauen sind auf dem Alten Südfriedhof zu entdecken mit spannenden und anrührenden Lebensgeschichten. Zum Beispiel die Kinderbuchautorin Emilie „Tante Emmy“ Giehrl (1837–1915). Sie war 52 Jahre lang, bis zum Tod bettlägrig, arbeitete trotzdem und spendete jeden entbehrlichen Pfennig für die noch Ärmeren. Isabella Braun (1815–1886) lebte mehr schlecht als recht von ihren Einnahmen als Jugendschriftstellerin und Herausgeberin der „Jugendblätter“. Hochgeschätzt von Damen vom Hofe, musste sie sich die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen, die nicht für einen „Blaustrumpf“ bzw. ihre Zeitschrift schreiben wollten, mühsam erarbeiten. Klara Metzger-Vespermann (1799–1827) trat als kleines Mädchen mit einem blinden Geiger als Bänkelsängerin in den Straßen der Au auf, bevor ihr Talent entdeckt und sie berühmt wurde. Cula aus Benin trat bei den Völkerschauen als „Amazone von Dahomey“ auf und starb in der Novemberkälte 1892 an Grippe. Das Grab ist nicht mehr erhalten.

Mythen und Wahrheiten
Natürlich findet man beim Stöbern in Münchens Geschichte auch abenteuerliche Storys. Von Irene von Keller (1858–1907), der Tochter von Carl Freiherr von Eichthal, des reichsten Mannes der Stadt, wird erzählt, dass ihre Zuneigung zum Maler Albert von Keller in der Familie nicht erwünscht war, weshalb sie Hausarrest bekam. Irene und Albert gelang – trotz Hausarrest – eine Reise nach London, heimlich, versteht sich, und heirateten dort zum großen Schmerz des Vaters. Nach dem Unfalltod des einzigen Sohnes 1906 verstarb Irene, die so kompromisslos ihre Bedürfnisse durchgesetzt hatte – an gebrochenem Herzen?
Wo die Gebeine von Anna Maria Lindmayr (1657–17275) auf dem Südfriedhof ruhen, ist nicht bekannt. Dennoch bin ich ihr auf der Suche nach Namen und Personen dort begegnet: Einmal stand ich vor dem auffälligen Grab der Grafen von Forbach. Eine Frau sprach mich an und erzählte, dass in diesem Grab noch eine Person läge, deren Namen aber nicht verzeichnet sei. Doch sie sei sich ganz sicher! Man müsste zum Beweis nur die Gruft öffnen und bei dieser unbekannten Leiche einen Gentest machen, denn sie wisse genau, wer das ist: eine Nonne. Das Gespräch zog sich eine ganze Weile, bis die Dame schließlich mit dem Namen der „Gastleiche“ herausrückte: Anna Maria Lindmayr.
Dieser abenteuerlichen Story musste ich nachgehen. Dabei stieß ich auf den Bericht eines Paters, dem Mitte der 1950er-Jahre auf dem Südfriedhof genau dasselbe passiert ist wie mir. ‚Nicht wahr, Pater, Sie suchen nach der Lindmayr?‘, sprach ihn eine Frau an. Er war verblüfft und sie fuhr fort. ‚In der Gruft liegt eine Leiche zuviel‘. Er durfte damals die Gruft besichtigen und fand tatsächlich einen Sarg mit einer einbalsamierten weiblichen Leiche, in einem Sarg ohne Namen.
Zweimal ein ähnliches Erlebnis, nur liegen 60 Jahre dazwischen! Ist das Phantasterei? Nicht unbedingt! Nach Auflassung der Kirchhöfe bei den Münchner Stadtkirchen und Klöstern 1802 wurden die Gebeine auf Karren in Massengräber auf dem Alten Südfriedhof gebracht. Da die Familie von Anna Maria Lindmayr enge Beziehungen zu den Wittelsbachern hatte, ist die Geschichte der Gastleiche im Grafengrab nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Die Selbstmordserie nach der Veröffentlichung von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ hat auch in München zu einem spektakulären Freitod geführt: Fanny von Ickstatt, Nichte des Rechtsgelehrten Johann Adam Freiherr von Ickstatt, stürzte sich 1785 vermutlich aus Liebeskummer  von einem der Türme der Frauenkirche. Goethe hat auf seinem Weg nach Italien eineinhalb Jahre später deshalb den Dom besucht und schrieb ins Tagebuch: “Ich stieg auf den Turm, von dem sich das Fräulein herabstürzte, und sah mich nach den Tyroler Bergen um. Sie waren bedeckt und der ganze Himmel überzogen. Nun scheint die Sonne im Untergehen noch an den alten Turm, der mir vor dem Fenster steht. Lebe wohl. Du bist mir immer gegenwärtig.“6  Fannys Familie machte ihren Einfluss geltend und konnte Fanny mit bischöflichem Dispens als „entseelt“, also nicht als Selbstmörderin, „christkatholischem gebrauch nach zur Erde bestättigen“. Unter großer Anteilnahme von Mittrauernden und Schaulustigen fand die Beerdigung am „Frauenfreithof“ an der Salvatorkirche statt. Auch ihre Gebeine wurden nach 1802 zum Südfriedhof gebracht, liegen vermutlich in einem Massengrab, aber vielleicht auch im Grab ihrer Mutter Franzisca Baronin von Heppenstein.7

Späte Ehrungen
Lediglich drei der auf diesem traditionsreichen Friedhof ruhenden Frauen sind postum mit einer Straßenbenennung geehrt worden: Ellen Ammann (1870–1932): Gründerin von Bahnhofsmission, IN-VIA, Katholischem Frauenbund München und Bayern und Katholischer Stiftungshochschule München sowie eine der ersten Landtagsabgeordneten in Bayern ab 19198. Klara Ziegler, für die auch eine Büste in der Ruhmeshalle hängt, und Sophie Menter. Es gibt noch viel zu tun, die Geschichte vieler hochinteressanter Frauen ins Gedächtnis der Stadt einzubringen, als Erzählung und bitte unbedingt als Denkmal.

Anmerkungen

1 Ludwig Thoma, Tante Frieda. https://www.projekt-gutenberg.org/thoma/frieda/frieda12.html [aufgerufen am 26.11.2020]
2 Adelheid Schmidt-Thomé, Vergessene Münchnerinnen. München 2017
Adelheid Schmidt-Thomé, Sozial bis radikal. München 2018
3 Aus einem Vortrag der Staatsbibliothek München im Juli 2018.https://www.bsb-muenchen.de/veranstaltungen-und-ausstellungen/article/k-eine-vergessene-muenchnerin-die-pianistin-sofie-menter-und-franz-liszt-2347/ [aufgerufen am 26.11.2020]
4 Adele Spitzeder, Geschichte meines Lebens. Stuttgart 1878, Nachdruck: Buchendorfer Verlag, München 1996
5 siehe Beitrag 46 in der Blogparade https://blog.muenchner-stadtbibliothek.de/frauen-und-erinnerungskultur-blogparade-femaleheritage/
6 Georg Jacob Wolf, Die Münchnerin. München 1924, Seite 52
7 Maria Magdalena Leonhard hat das Dokument eines Zeitzeugen im Nachlass des Münchner Historikers Karl Trautmann im Stadtarchiv gefunden und diesen Fund zum Anlass für die Romane „Der Fall Fanny von Ickstatt“ (München 2013) und „Stern unter den Schönen“ (München 2016) genommen. Zitate aus „Stern“ S.193ff.  – Die Halbschwester von Fanny von Ickstatt, Sabina von Heppenstein, war übrigens verheiratet mit Joseph Ritter von Thoma († 1849), der wiederum im selben Grab wie „Tante Frieda“ ruht. München war schon immer ein Dorf!
8 Adelheid Schmidt-Thomé, Ellen Ammann. Regensburg 2020. Siehe auch Blogparade 56

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